Mit vollem Magen verhungern
“Rain” sieht aus wie
ein Geisterelch. Die
inzwischen vierjährige Elchkuh, die als kleine Waisin ins Northern Lights
Wildlife Shelter kam, sieht jetzt wie ein Skelett mit Fell aus: Ihre
Hüftknochen stechen über tiefen Kuhlen heraus, die eigentlich voller Muskeln
und Fleisch sein sollten. Man kann ihre Rippen mühelos zählen. Ihre Hinterläufe
sind dürr, die massiven Muskeln verschwunden.
Sie hat nicht
immer so ausgesehen. NLWS hat sie als junges Kalb aufgenommen und gesund in die
Freiheit entlassen, wo es ihr gut ging. Rain hat mindestens ein Kalb bekommen. Erst als sie letzten August wieder beim Wildlife
Shelter auftauchte und in der Gegend blieb, fiel auf, dass mit ihr etwas nicht
stimmte: dünner Durchfall klebte ihr an den Hinterläufen, und sie sah etwas
dünn aus. Rain begann dann, in beängstigender Geschwindigkeit Gewicht zu
verlieren und triefte überall, wo sie ging, Durchfall.
Ich erwartete
fast, sie eines Tages tot umfallen zu sehen. Aber statt ihr wurde Belle, eine
andere Elchkuh, die auch als Kalb hier aufgezogen wurde, sterbend auf einer
benachbarten Farm gefunden. Sie hatte letzten Sommer ein Kalb zur Welt
gebracht, das gesund aussah, und auch wenn Belle breiigen Durchfall hatte und
etwas dünn war, kam sie Rains verhungertem Zustand doch nicht nahe. Trotzdem
war es Belle, die starb.
Der Tierarzt
wurde gerufen, um eine Autopsie vorzunehmen. Außer, dass das Tier Anzeichen der
Hungersnot zeigte, konnte er keinerlei Abnormitäten finden. Ihr Magen und ihr
Darm waren aber voll. Beim Öffnen des Magens zeigte sich, dass der mit einer
gelblich-grünen, suppigen Masse gefüllt war. Die Organe und ein Teil des
Mageninhalts wurden ins Labor geschickt, aber es kamen keine klaren Resultate
dabei heraus. Ohne feste Beweise dafür, wie ein Elch mit vollem Magen
verhungern kann, lässt sich der Grund nur aus einzelnen Hinweisen
zusammensetzen. Heu scheint das Hauptproblem zu sein.
Die Gegend hier
ist voller Felder, und im Winter kann man oft Hirsche und Elche beobachten, die
sich an Heuballen gütlich tun. Heu ist zwar ein gutes Futtermittel für Kühe und
Pferde, kann für Hirsche aber tödlich sein, wenn es auf lange Zeit in großen
Mengen gefressen wird – und wenn das Tier geschwächt oder kränklich ist.
Widerkäuer wie
Hirsche und Elche brauchen Wochen, um ihre Verdauung an Futter anzupassen, das
sich von der natürlichen Nahrung unterscheidet. Daher können sie Heu nicht
richtig verdauen und nicht genügend Kalorien und Nährstoffe daraus aufnehmen,
die sie brauchen, um bei Kräften zu bleiben oder gesund zu werden – und so
können sie mit vollem Magen verhungern. Was Hirsche betrifft, ist das bereits
seit Jahrzehnten bekannt und erforscht.
An Elchen ist
dies wesentlich weniger erforscht. Das Alaskan Moose Research Centre in
Soldotna hat Anfang der 1990er Jahre eine Studie über den Effekt durchgeführt,
den Heu als Futter auf Elche hat. Es wurde herausgefunden, dass ausgewachsene
Elche, die nur mit Heu gefüttert wurden, im Laufe von elf Wochen im
Durchschnitt 53kg Gewicht verloren. Kälber verloren zwar nicht an Körpermasse,
hatten am Ende der Studie aber keinerlei Fett mehr am Rumpf, wodurch sie Gefahr
zu verhungern liefen. Für Tiere, die bereits eine angeschlagene Gesundheit
haben, kann das ein Todesurteil sein.
Die Studien
weisen darauf hin, dass für Hirsche und Elche erreichbar gelassenes Heu
potentiell tödliche Konsequenzen für die Tiere haben kann. Möglicherweise liegt
hier ein Grund für die sinkende Anzahl von Elchen in Gegenden, wo Felder und
Wald aneinandergrenzen. Das Northern Lights Wildlife Shelter hofft zu
beobachten, ob Rain den Winter überlebt, und welchen Einfluss das Fressen von
Heu auf die Gesundheit der im Shelter aufgezogenen Elche und Hirsche hat,
nachdem sie wieder ausgewildert wurden.
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